Modell des Erdgeschosses des Museum Fridericianum
mit der Ausstellungsarchitektur der documenta 8.
Modell und Foto: Simon Großpietsch.
Ein Geh- und Fußwege-Schild der Documenta11 mit
Verweis auf die Bindung-Brauerei sowie das
Orientierungsschild aus der Binding-Brauerei mit
der zweidimensionalen (orthogonalen) Projektion
des Ausstellungsgebäudes in Pergamin im
Privatarchiv. Foto: Simon Großpietsch.
Promotion
Der Raum der documenta.
Eine kunstwissenschaftliche Untersuchung des
Szenografischen der politischen und ge-
sellschaftlichen Öffnung der Kunstausstellung
am Beispiel der documenta 1987 und 2002
Die szenografische und architektonische Ver-
bindung zwischen der Ausstellung und dem
verfügbaren Raum der Stadt Kassel, ist signi-
fikanter Bestandteil der Ausstellungreihe
documenta. Um sich der wechselnden Ausstel-
lungsgestaltung der documenta adäquat zu
nähern, wird ein raumbezogenes Begriffsmodell
konzipiert und zur Anwendung gebracht. Die
Reduktion auf den Raum an sich gestattet – auf
Grundlage von inter- und transdisziplinären
Raumtheorien und -termini – eine bisher
fehlende kunstwissenschaftliche Raumdefinition
und interpretiert den aus dem Theater ent-
lehnten Begriff ‚Szenografie‘ für die
Kunstwissenschaft.
Innerhalb des herausgearbeiteten raumbe-
zogenen Begriffsmodells wird der euklidisch-
empirische Raum als Gebäudebestand, also als
Bauwerk oder Areal (individuell) wahrnehmbar
und zugleich messbar definiert. Dieser Raum ist
nicht indeterminiert: Ausstellungsgestaltungen
reagieren primär auf die Strukturen des
euklidisch-empirischen Raums. Auf dessen
Grundlage entsteht der produzierte Raum, der
als zweidimensionale (orthogonale) Projektion,
also als Gebäudegrundriss geplant und durch
Ausstellungsarchitektur eingebracht wird. In
der Folge werden räumliche Eigenschaften
transdisziplinär zur Konkretisierung der
Gestaltung von Ausstellungen für die Kunst-
wissenschaft benennbar. Eingedenk dessen kann
der Raum als architektonische, soziologische,
philosophische sowie psychologische Entität,
die diffizilen Wechselwirkungen zwischen
Atmosphären, Individuen und Objekten in
Kunstausstellungen eingrenzen und charakte-
risieren.
Jede documenta-Ausstellung ist zudem inner-
halb einer variablen kuratorischen Hypothese
verwoben. Folglich bedarf es einer weiterge-
henden Methode zur Quantifikation der
Szenografie der Ausstellungsreihe außerhalb
künstlerisch-selbstreferentieller Parameter.
Dies findet in den jeweiligen Ausstellungs-
architekturen seinen Ausdruck. Manfred
Schneckenburger und Okwui Enwezor öffnen
1987 und 2002 den Kontext ihrer Ausstellun-
gen: die ausgestellten Künstler*innen
argumentieren innerhalb eines außerreferen-
tiellen, gesellschaftsbezogenen, zumeist
politischen Gesamtkonzeptes. Zudem verdichten
die Kurator*innen ihr Konzept in der
Zusammenarbeit mit Ausstellungsarchi-
tekt*innen innerhalb der Ausstellungsarchitek-
tur ihrer documenta-Ausstellungen.
Seit 1955 bietet das Museum Fridericianum den
euklidisch-empirischen Raum der documenta.
Der 1954 wieder aufgebaute Raum der
documenta 1955 bietet sich als ungenutzter
Rohbau für die Ausstellung an. Von der Auf-
lösung konkreter künstlerischer Kennzeichen
sowie dem Gesamtausbau des traditionellen
euklidisch-empirischen Raums geprägt, wird
durch Manfred Schneckenburgers documenta 8
1987 eine ausstellungsarchitektonische Ausein-
andersetzung mit dem Museumkonzept an sich
angestrebt: Die documenta als Prototyp gegen-
wärtiger Kunstausstellungen wird in Opposition
zum Museum gestellt und konkretisiert inner-
halb der Ausstellungsarchitektur eine aus Sicht
des Architekten Vladimir Lalo Nikolić adäquate
Präsentationsform zeitgenössischer Kunst. Im
Sinne einer postkolonialen Ausrichtung greift
die Documenta11 2002 schließlich die Thesen
von Catherine Davids documenta X 1997 auf
und überführt die documenta in eine über die
Ausstellung in Kassel hinausreichende, fünf-
teilige Veranstaltung. Durch eine transparente
Recherche macht Enwezor seine Idee einer
documenta zu Beginn des 21. Jahrhunderts dem
Publikum zugänglich. 2002 wird das periphere
leerstehende Industrieareal der Binding-
Brauerei zum Zentrum der Documenta11. Inner-
halb dieser Architektur, welche alle Beteiligten
der Ausstellung – Kurator*innen, Künstler-
*innen, Besucher*innen – impliziert, über-
führen die Architekt*innen KuehnMalvezzi das
Ausstellungsge-bäude der Binding-Brauerei in
ein dynamisches Prinzip offener Handlungs-
räume.
Das dreiteilige Begriffsmodell schafft am
Beispiel der beiden spezifischen Ausstellungen
die Möglichkeit einer prinzipiellen, kunst-
wissenschaftlichen Charakterisierung der
AusstelLungsgestaltung. Prämisse dessen ist
gleichwohl die konstitutive Integration des
vorgefundenen Raums einer Ausstellung durch
die Ausstellungsmachenden. Wird der
euklidisch-empirische Raum allein als unkon-
krete Hülle und ohne inhaltlichen Bezug einer
Kunstpräsentation verstanden, ist eine Be-
trachtung und Konkretion dessen, wie sie durch
das raumbezogene Begriffsmodell ermöglicht
wird, weniger geeignet.
Veröffentlichung:
Großpietsch, Simon, Der Raum der documenta.
Eine kunstwissenschaftliche Untersuchung des
Szenografischen der politischen und
gesellschaftlichen Öffnung der Kunstausstellung
am Beispiel der documenta 1987 und 2002,
Kassel 2020.
ISBN: 978-3-7376-0802-2
Kartoniert, Paperback, DIN A4, 336 Seiten, 217
s/w Abbildungen.
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